Dienstag, 13. September 2005

Der Preis des Widerstandes: Meine Geschichte, von Ngawang Sangdrol

Ich wurde 1977 in Lhasa, Tibet, geboren. Meine Familie war zwar arm, aber wir standen uns alle sehr nahe und ich liebte es, mit meinen zwei älteren Schwestern und den vier Brüdern allerlei Spiele zu spielen und mit ihnen zusammen zu sein.
Wenn wir alle gemeinsam zu Hause zu Mittag aßen, pflegte mein Vater uns viele Geschichten über Tibet und das tibetische Volk zu erzählen. Tibet ist seit 1949 von China besetzt, meine Familie hat wirklich sehr unter der chinesischen Herrschaft gelitten.

Mein Vater, Namgyal Tashi, erzählte uns des öfteren von dem Volksaufstand in Lhasa 1959, an dem auch er beteiligt war und der zum Tod und der Verhaftung von Zehntausenden von Tibetern geführt hatte. Meine Mutter berichtete mir, daß er während der Kulturrevolution in den Siebzigern bei den politischen ”Kampfsitzungen” oft so sehr geschlagen wurde, daß er dann bewußtlos nach Hause gebracht worden war. Später wurde ihm noch einmal viel schlimmer zugesetzt, weil er sich weigerte, ein offizielles Schriftstück zu unterschreiben, das die chinesische Politik in Tibet befürwortete. Ich war voller Bewunderung für seinen Mut und seine Entschlossenheit und hegte dieselben tiefen Gefühle für unser Land wie er.

In Tibet ist es Brauch, daß in einer Familie mindestens ein Kind ins Kloster geschickt wird, um eine religiöse Ausbildung zu erhalten, und so trat ich im Alter von 12 Jahren in das Kloster Garu ein. Meine Familie war tief religiös und dem tibetischen Buddhismus innig verbunden, weshalb ich es als ein großes Glück empfand, Nonne zu werden. Sofort fühlte ich mich in der kleinen eng zusammengewachsenen Gemeinschaft richtig wohl.

Ab meinem 12. Lebensjahr begann ich mir bewußt zu werden, wie wahr die Erzählungen meiner Mutter und meines Vaters darüber, wie sehr die Tibeter von den Chinesen unterdrückt werden, eigentlich sind. Die Tatsache, daß Tibet von den Chinesen besetzt ist, wurde für mich eine sehr persönliche Angelegenheit. Es reifte in mir der Entschluß heran, etwas zu tun, auf irgendeine Weise Widerstand zu leisten. Es ist nicht so, daß mich der Ärger dazu gebracht hätte, es ging um etwas viel Tieferes. Eines Tages sprachen einige der Nonnen davon, daß sie gegen die Chinesen protestieren wollten. Ich entschloß mich, mich diesen Nonnen bei ihrer politischen Demonstration anzuschließen.

Eines Morgens machten wir uns auf den Weg, um bei einem religiösen Fest im Norbulingka, dem ehemaligen Sommerpalast Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Ich war damals erst dreizehn und die Jüngste und Kleinste in unserer Gruppe von 13 Nonnen. Wir wußten, daß unsere Aktion viel Aufmerksamkeit erwecken würde, denn bei dem Fest kommen gewöhnlich sehr viele Leute zusammen. Ebenso war es uns bewußt, daß zahlreiche bewaffnete chinesische Polizisten anwesend sein würden. Wir marschierten mutig in die Mitte der Menge und begannen ”Lang lebe der Dalai Lama” und ”Free Tibet” zu rufen. Fast noch im selben Augenblick schleiften uns chinesische Polizisten in Uniform und in Zivil weg. Sie zwängten uns in einen Lastwagen, der uns zur Haftanstalt Gutsa außerhalb der Stadt fuhr.

Als wir in Gutsa ankamen, wurden wir viele Stunden lang unter Gewaltanwendung vernommen. Die Gefängnisaufseher erklärten uns, wir seien ”Konterrevolutionäre”, die Tibet von China abspalten wollten. Die Vernehmungsbeamten schlugen uns mit Eisenrohren und manchmal auch mit elektrischen Viehstöcken. Sie banden elektrisch geladene Drähte an unsere Zungen. Sie fesselten uns sogar in der sehr schmerzhaften sogenannten ”Flieger-Stellung”, bei der einem die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden werden und man an der Decke aufgehängt wird. Mir war, als ob meine Arme aus den Schultergelenken gezerrt würden.

Die Aufseher versuchten hartnäckig herausfinden, welche von uns Nonnen den Protest angeführt hätte. Sie wollten uns unbedingt dazu bringen, daß wir uns gegenseitig denunzierten und eingestanden, daß das, was wir meinten für Tibet zu tun, falsch gewesen sei. Aber wir hielten alle fest zusammen, um ihnen Widerstand zu leisten. Jede einzelne von uns sagte, sie sei die Anführerin. Und natürlich schlugen sie uns um so mehr, weil wir nicht klein beigaben.
In der Nacht froren wir ständig und litten Hunger. Ich versuchte Regenwasser aufzufangen, indem ich meine Tasse aus dem Zellenfenster hinaushielt, aber ich war so klein, daß mein Arm kaum durch die Gitterstangen reichte.

Über Nachbarn, die von der Demonstration gehört hatten, fanden meine Eltern heraus, wo ich war, und einmal durfte mich meine Mutter, Jampa Choezom, sogar besuchen. Als ich sie sah, zwang ich mich, nicht zu weinen, denn sie sollte wissen, daß ich stark bin; ich wollte sie nicht unglücklich machen. Wir sprachen fast nichts, meine Mutter konnte keinen Ton herausbringen, so erschüttert war sie, und natürlich waren wir von bewaffnetem Gefängnispersonal umgeben. Als sie gegangen war, brach ich tränenüberströmt in meiner Zelle zusammen.

Neun Monate später wurde ich, ebenso wie die anderen Nonnen, entlassen und durfte nach Hause zurückkehren. Aber meine bisherige Welt war zerbrochen. Während ich inhaftiert war, waren auf einen Zwischenfall hin, bei dem im Kloster Samye die tibetische Flagge gehißt worden war, auch mein Vater und einer meiner Brüder, Tenzin Sherab, ins Gefängnis gekommen. Diese zu zeigen ist nämlich in Tibet verboten. Nur wenige Wochen später starb meine Mutter, wie man mir sagte, an Herzversagen. Ich denke, daß der Schock der Verhaftung meines Vaters und meines Bruders und all die langen Jahre des Leidens die Ursache für ihren Tod gewesen sind. Sie war erst 52 Jahre alt.

Ich blieb mit meinen Brüdern und Schwestern in unserem Haus wohnen, aber wir fühlten uns verlassen. Als ehemalige politische Gefangene wurde mir die Rückkehr in mein Kloster verweigert, so daß ich nicht einmal einen Halt an der Gemeinschaft der Nonnen hatte. Ich wurde ständig von der Polizei überwacht, und es war mir unmöglich, mich mit meinem Freunden zu treffen – ich mußte befürchten, sie dadurch in Schwierigkeiten zu bringen. Einige Zeit lang brachte ich Opfergaben und Gebete für meine Mutter dar und war sonst viel mit der Familie zusammen. Doch während dieser ganzen Zeit wünschte ich mir, politisch etwas tun zu können – hauptsächlich, weil ich Freunde hatte, die noch im Gefängnis saßen, andere Nonnen, die weiter leiden mußten, und ich wollte etwas tun, um zu zeigen, daß ich zu ihnen halte. Als ich etwa 15 war, ging ich mit einigen anderen Nonnen in das Viertel um den Barkhor, dem eigentlichen tibetischen Wohnviertel in Lhasa.
Kaum hatten wir begonnen, nach Freiheit für Tibet zu rufen, packten uns die Polizisten, und ich wurde abgeführt. Dieses Mal sollte es 11 Jahre dauern, bis ich wieder aus dem Gefängnis herauskam.
(Übersetzung eines von Kate Saunders mit Ngawang Sangdrol geführten bewegenden Interviews - The Cost of resistance: My Story by Ngawang Sangdrol - aus dem Buch "Incomparable Warriors". Download des kompletten Buchs (4,24 MB) unter http://www.savetibet.org/documents/pdfs)
Mit freundlicher Genehmigung: Adelheid Dönges, Internationale Gesellschaft fur Menschenrechte (IGFM)
http://www.igfm-muenchen.de

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